Zwei Erzählungen hat Arno Schmidt in der von ihm entwickelten »Fotoalben«-Form geschrieben: Die Umsiedler (1952) und Seelandschaft mit Pocahontas (1953). In dem 1954 geschriebenen Essay Berechnungen 1 führt Schmidt zu dieser Form aus:

Besonders nötig nun war und ist es, endlich einmal zu gewissen, immer wieder vorkommenden verschiedenen Bewußtseinsvorgängen oder Erlebnisweisen die genau entsprechenden Prosaformen zu entwickeln. [...]
Ausgangspunkt für die Berechnung der ersten dieser neuen Prosaformen war die Besinnung auf den Prozeß des »Sich=Erinnerns«: man erinnere sich eines beliebigen kleineren Erlebniskomplexes, sei es »Volksschule«, »alte Sommerreise« – immer erscheinen zunächst, zeitrafferisch, einzelne sehr helle Bilder (meine Kurzbezeichnung: »Fotos«), um die herum sich dann im weiteren Verlauf der »Erinnerung« ergänzend erläuternde Kleinbruchstücke (»Texte«) stellen: ein solches Gemisch von »Foto=Text=Einheiten« ist schließlich das Endergebnis jedes bewußten Erinnerungsversuches. [...]
Dieser Erinnerungsprozeß, eine der anhaftenden Eigentümlichkeiten unserer Gehirnstruktur – also durchaus etwas Organisches, und gar nichts Künstliches! – wurde bewußt zum Ausgangspunkt einer ersten praktischen Versuchsreihe gemacht, die einerseits das Kristallgitter der betreffenden »Erinnerung« sichtbar lassen, zugleich aber auch ungeschwächt die Bildintensität »von damals« vermitteln sollte: im Leser würde theoretisch solchermaßen zwangsweise die Illusion eigener Erinnerung suggestiv erzeugt werden!
(Natürlich muß man ihm hierzu auch schärfste Wortkonzentrate injizieren; cela va sans dire!)
Als Beispiele dieser ersten Neuform, für die ich die Bezeichnung »Fotoalbum« vorschlage, habe ich bisher vorgelegt: »Die Umsiedler« und »Seelandschaft mit Pocahontas«. Diese beiden Stücke
[...] erlauben mir, die weitere Unterteilung einer solchen Versuchsreihe hier einmal wie folgt näher anzugeben. –
Für Anzahl und Länge der Fotos und Texte, sowie deren rhythmischen und sprachlichen Feinbau, sind das Entscheidende:
Bewegungskurve und Tempo der Handelnden im Raum!
Es ist ja ein fundamentaler Unterschied, ob ich etwa einen Ort
rasch
durchfahren
muß
oder ihn
langsam
umkreisen
kann.
Im letzteren Falle sieht man ihn nämlich von allen Seiten, unter vielen, länger anhaltenden Beleuchtungen; man »hat« jedesmal automatisch eine ganz andere »Zeit«, ein anderes Verhältnis zu den Begegnenden, und dem Schicksal (oder wie Sie das Ding nennen).
Es ergibt sich beispielsweise sofort, daß im ersteren Falle (der geradlinigen, zwangsmäßig raschen Bewegung der »Umsiedler«) eine wesentlich größere Anzahl von Fotos zur Bewältigung des vielfältigeren durchmessenen Raumes nötig sein wird; sowie auch daß diese kürzer, die Sätze selbst hastiger sein müssen, als im zweiten der erwähnten Fälle, der hobbema’schen »Pocahontas«.


Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts III,3 S.164f.
© Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld